Liebe Leserinnen und Leser,
liebe Schwestern und Brüder,
der Silvesterabend, der letzte Abend eines Jahres, ist eine ganz besondere Zeit.
Das Feuerwerk, die fröhliche und lautstarke Begrüßung des neuen Jahres um Mitternacht – das ist das eine. Das andere – und dazu soll auch jetzt in diesem Gottesdienst Zeit sein – ist das stille Innehalten.
Bevor das neue Jahr das alte ablöst, schauen wir zurück auf das, was war: Wir erinnern uns an die Tage und Wochen, die hinter uns liegen, die jetzt Vergangenheit sind und damit Teil unseres Lebens, Teil unserer Geschichte.
Wir erinnern uns an die Erlebnisse, die wir hatten, an die Erfahrungen, die wir gemacht haben, die uns geprägt und vielleicht auch verändert haben.
Manches in diesem Rückblick ist gemeinsame Erinnerung und ganz nahe bei uns: So beschäftigt uns der Krieg Russland – Syrien, auch Corona und seine Auswirkungen sind noch ganz im Gedächtnis verblieben.
Aber auch Schönes haben wir gespeichert. Die Jahreszeiten mit den vielen bunten Bildern, z.B. die aufgehende Sonne am frühen Morgen, der Tau auf den Feldern, die gefärbten herbstlichen Blätter oder auch die ersten fallenden Schneeflocken, all das erfreut unser Herz.
Manch schöne Begegnung mit guten Gesprächen oder dem gemeinsamen inhaltsreichen Schweigen gibt uns Nahrung für das Kommende. Ja, die persönlichen Erlebnisse schieben sich immer wieder in den Vordergrund.
Für die einen war es ein gutes Jahr 2022.
Sie haben es genossen, sich gefreut, gute Erfahrungen gemacht; andere haben manches erlitten, hinnehmen und einstecken müssen, vielleicht auch überstanden.
Ein gutes, ein rundum glückliches Jahr war es für die einen – Zeit, die viel zu schnell vergangen ist.
Für andere war es ein schweres Jahr, ein hartes; sie mussten durchmachen, was sie so nie erwartet hätten: Krankheit und die fehlende Gewissheit, wie es weiter geht; eine Trennung oder einen endgültigen Abschied von einem lieben Menschen; Sorgen mit den Kindern; Angst um den Arbeitsplatz.
Und für wieder andere war dieses Jahr weder gut noch schlecht, ohne große Veränderungen, ein Jahr mit »viel Alltag« eben.
Vieles ist geschehen. Auf manches blicken wir dankbar zurück. Es gab Ereignisse und Begegnungen, die uns gestärkt und bereichert haben, an denen wir gewachsen sind; und das können ja durchaus auch die schweren Erlebnisse, und das wenig Erfreuliche sein.
Vielleicht würden wir im Rückblick, wenn es ginge, manches gerne ändern, vielleicht sogar ungeschehen machen. Manches sind wir schuldig geblieben – uns selbst oder anderen. Heute, an diesem Altjahrabend soll all das noch einmal seinen Platz haben.
Und der Predigttext aus dem 8. Kapitel des Römerbriefs, die Verse 31b bis 39 vergewissert uns, dass alles was war, was ist und sein wird uns nicht trennen kann von Gottes Liebe, wir hören:
Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein?
Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?
Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht.
Wer will verdammen? Christus Jesus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und uns vertritt.
Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert?
Wie geschrieben steht (Psalm 44,23): »Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wir sind geachtet wie Schlachtschafe.
Aber in dem allem überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat.
Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges,
weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.
Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes!
Egal, was war, egal, was kommt – nichts kann uns dieser »Geborgenheit der Liebe Gottes« entreißen.
Ich bin gewiss, sagt Paulus: Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes.
Und Bonhoeffer dichtet: Gott ist immer bei uns, und das ganz gewiss an jedem neuen Tag.
Solche Geborgenheit, dieses Aufblitzen der Liebe Gottes in unserem Leben – vielleicht ist es das, was wir in Situationen spüren, in denen wir die ganze Welt umarmen könnten:
wenn jemand die große Liebe seines Lebens gefunden hat;
wenn jemand ein neugeborenes Kind im Arm hält;
wenn jemand vom Arzt eine Diagnose bekommt, die die Angst nimmt.
Weder Paulus noch Dietrich Bonhoeffer schreiben aus einer solchen Lebenssituation heraus. Bonhoeffer sitzt im Gefängnis, er weiß, mit welchen Gegnern er es zu tun hat, und dennoch schreibt er: »Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag.«
Paulus hat erlebt, wovon er schreibt: Angst, Verfolgung, Hunger und Gefahr. Und doch sagt er: »Ich bin gewiss, dass nichts uns scheiden kann von der Liebe Gottes«.
Wie kommt es zu dieser Gewissheit, zu dieser Überzeugung, dass nichts uns trennen kann von der Liebe Gottes?
Nicht das Leid, die Trauer und der Schmerz über den Verlust eines lieben Menschen;
nicht die Sorgen, die ich mir um die Zukunft mache;
nicht die Ratlosigkeit und nicht die Fragen, auf die ich keine Antworten finde;
nicht die Grenzen, an die ich stoße;
und auch nicht die Fehler, die ich gemacht habe.
Nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes – ich merke, mir fällt es schwer, diesem Jubelruf des Paulus Vertrauen zu schenken. Zu vieles scheint dem immer wieder entgegen zu stehen. Es gibt doch auch die Erfahrungen die einem das Gefühl geben, abgeschnitten zu sein von der göttlichen Liebe, heraus gefallen aus der göttlichen Zuwendung. Das sind dann Erfahrungen, bei denen wir uns fragen: Wie kann Gott das zulassen? Oder: Warum, Gott? Warum ich?
Doch die Worte von Paulus lassen mich nicht los. Diese Gewissheit, mit der er spricht, fordert mich heraus. Und ich wünsche mir, mir etwas davon »abschneiden« zu können, es mitnehmen zu können über den Jahreswechsel hinaus, hinein ins neue Jahr.
Deshalb noch einmal die Frage wo nimmt Paulus solche Gewissheit her? Und wie kann sie zu meiner, zu unserer Gewissheit werden?
Ganz am Anfang des Römerbriefes schreibt Paulus, was seine Aufgabe als Apostel ist, nämlich »Zu predigen das Evangelium Gottes«.
Die Liebe Gottes, deren Paulus sich so gewiss ist, sie wird konkret und bleibt kein leerer Begriff, sondern sie ist angefüllt mit dem Leben, Sterben und Auferstehen Jesu. Gott ist nicht weit weggeblieben, hat sich nicht herausgehalten. Gott ist Mensch geworden – und die Geburtsgeschichte aus dem Lukasevangelium malt aus, welche Bewegung »nach unten« das war.
Entscheidend aber für Paulus ist, dass Jesus Christus den menschlichen Weg gegangen ist bis zum Tod; dem Leid, dem Spott, dem Schmerz ist er nicht ausgewichen. Von den Menschen wurde er verhöhnt und ausgelacht, von Gott aber aus dem Tod herausgerufen und ins Recht gesetzt.
Christus ist der »Bürge« für die Gewissheit des Paulus. Weil Christus uns vertritt, weil er für uns einsteht, weil er an unserer Seite steht – deshalb kann nichts uns scheiden von der Liebe Gottes!
Es werden wieder Stunden und Tage kommen, in denen es uns schwer fallen wird zu sagen: »Ich bin gewiss«. Aber was hindert uns, jetzt in diesem Vertrauen auf das zu Ende gehende Jahr dankbar zurück zu schauen und den Schritt ins Neue Jahr zu wagen? Was hindert uns daran, jetzt zu sagen: Nichts von dem, was war – und nichts von dem, was kommt! – kann uns von der Liebe Gottes trennen – von der Liebe des Gottes, der es gut mit uns meint! Amen.
Predigerin: Margret Häßler, Prädikantin, BD
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