Leben gegen den Trend

Eine Rose als Stütze

Liebe Schwestern und Brüder im Berneuchener Dienst, liebe Besucher*innen unserer Internetseite,
nach einer längeren Pause können Sie hier wieder einen geistlichen Impuls lesen, eine Predigt zum gestrigen vierten Sonntag nach Trinitatis. Er beschäftigt sich damit, wie wir unser Miteinander in der Gemeinde, der Gemeinschaft und darüber hinaus gestalten.
Mit herzlichen Grüßen und Segenswünschen
Ihre
Sabine Zorn (BD)

„Waschen Sie Ihre Hände regelmäßig. – Tragen Sie einen Mundschutz bei Begegnungen mit anderen Personen. – Halten Sie mindestens 1,5 m Abstand zu anderen. – Niesen oder husten Sie in die Armbeuge oder in ein Taschentuch.“

Wenn ich meine Corona-App auf dem Smartphone öffne, springen mir diese Sätze entgegen. Ich habe sie im Radio von der Kanzlerin gehört, der Ministerpräsident hat seine Landeskinder damit ermahnt, sie sind auf den Zetteln am Eingang jeder Arztpraxis und Apotheke zu lesen. Ich denke: Ja klar, stimmt. Und ich denke auch: Langsam will ich das nicht mehr dauernd vorgehalten bekommen. Ich weiß es doch, ich tu es doch. Aber manchmal muss ich mich fragen: Tue ich es wirklich? Was sind denn 1,5 m? Und brauche ich den Mundschutz auch zuhause, wenn der Postbote an der Tür klingelt oder ein Handwerker eben mal etwas ausmisst?

Paulus schreibt an die christliche Gemeinde in Rom. Einen Brief, der es theologisch in sich hat: Über das Gesetz und den Glauben, über die Taufe und die Rechtfertigung aus Gnade, über Gottes Geist, der lebendig macht, und seine bleibende Liebe zu seinem Volk Israel. Ziemlich gegen Ende, wo es ja mal praktisch werden darf, äußert er sich auch zum Leben der Gemeinde. Paulus ist zwar noch nicht persönlich in Rom gewesen, als er diesen Brief schreibt, aber ein paar allgemeine Hinweise und Ermahnungen können ja nicht schaden. Damit kann jede, kann jeder etwas anfangen. Beim Gottesdienst wird das Schreiben des Apostels vorgelesen. Und die Menschen hören: „Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5. Mose 32,35): »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.« Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, so gib ihm zu essen; dürstet ihn, so gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« (Sprüche 25,21-22). Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ Vielleicht denken einige aus der Gemeinde in Rom: Ja klar, stimmt. Recht hat er, der Paulus. Und sie denken möglicherweise auch: Aber warum müssen wir uns das von diesem fremden Menschen vorhalten lassen? Wir wissen das doch selbst, wir tun das doch. Vielleicht haben einige sich auch gefragt: Tun wir das denn wirklich?

„Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann.“

Als Kind habe ich Josef geliebt! Wenn im Kindergottesdienst von ihm erzählt wurde, war ich mittendrin im Geschehen. Der fantasievolle Träumer im bunten Rock hatte es mir angetan, der Lieblingssohn seines Vaters, der den Neid der Brüder auf sich zieht, von ihnen nach Ägypten verkauft wird und wegen falscher Anklagen aus enttäuschter Liebe im Gefängnis landet. Der sich als Traumdeuter betätigt und durch seine kluge Vorratspolitik in den fetten und mageren Jahren aufsteigt bis zum Vertrauten des Pharao – das waren Geschichten, wie sie spannender nicht sein konnten. Und zum Schluss kamen dann die Brüder mit dem alten Vater auch nach Ägypten, um die Hungersnot zu überleben und zu bleiben. Als der Vater stirbt, bekommen sie es mit der Angst zu tun. Ob Josef sich jetzt – spät noch – an ihnen rächen wird? „Und seine Brüder gingen selbst hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte. Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.“

„Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann.“

Aus der Marler Zeitung im Sommer 2018: Im großen Sitzungssaal des Rathauses blieb am Mittwochabend kaum ein Platz frei. Die Stadtverwaltung hatte zum Informationsabend über den Neubau der Yunus Emre Moschee eingeladen. Viele kamen, um zu zeigen, dass das Bauvorhaben für sie kein Problem darstellt. Einige, um ihre Bedenken zu äußern, wenige, um Protest zu formulieren. „Nach den zwei Veranstaltungen auf dem Rathausplatz mit erheblichem Polizeieinsatz vor einigen Wochen wollte ich dafür Sorge tragen, dass jeder Marler in Frieden und Sicherheit an dieser Veranstaltung teilnehmen kann“, so Bürgermeister Werner Arndt. … Wie berichtet will die Yunus Emre Moschee Gemeinde … eine neue Moschee bauen. Seit mindestens 20 Jahren beschäftigt die Gemeinde und die Verwaltung der Stadt Marl dieses Projekt.“ So weit der Zeitungsartikel. Auch wenn es in den meisten muslimischen Ländern dieser Welt Christen nicht gestattet wird, Kirchen zu bauen, gilt in Deutschland nach Artikel vier des Grundgesetzes Religionsfreiheit: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich“, heißt es da. „Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“ Punkt!

„Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann.“

Vor Jahren hat mir eine Kollegin mal sehr ins Leben getreten, ich fühlte mich echt verletzt. Hatte in einem Gottesdienst mein Bestes gegeben und sie war drübergefahren wie mit der Dampfwalze. Das hat mich länger begleitet, genau genommen bis neulich. Da kam Besuch von einer lieben Bekannten, die dann noch weiter wollte und mich angesichts meiner schönen Rosen im Garten bat, eine mitnehmen zu dürfen zu ihrer nächsten Gastgeberin. Dreimal dürfen Sie raten …! Angeboten hätte ich meiner Bekannten das sicher nicht, abschlagen konnte ich es aber auch nicht. Also: Eine Rose und einen Zweig vom Rosmarin in ein Marmeladengläschen gepackt, Wasser dazu. Und dann plötzlich das Gefühl: Es tut mir gut, zu diesem Sträußchen wider Willen genötigt worden zu sein. Wahrscheinlich erinnert sich die Kollegin überhaupt nicht mehr an die von mir als so unschön erlebte Szene, aber ich habe jetzt eine ‚Rose als Stütze‘ (Hilde Domin) gegen das Nachtragen.

„Lass dich nicht vom Bösen überwinden.“

Drei Szenen, in denen es anders zugeht als zu erwarten gewesen wäre: Josef bleibt seinen Brüdern gegenüber freundlich und zugewandt, die Marler Bürgerschaft zeigt sich – im Gegensatz zu den Erfahrungen in anderen Städten – überwiegend tolerant gegenüber dem Bauvorhaben der Moscheegemeinde und ich konnte – für mich selbst völlig überraschend – mein jahrelanges ungutes Gefühl der Kollegin gegenüber loslassen. In diesen Szenen geht es um das, was Paulus in seinen Worten an die Gemeinde in Rom in den Mittelpunkt stellt: um ein friedliches Zusammenleben sowohl innerhalb der eigenen Gruppe wie mit den Menschen außerhalb, seien sie ihnen gegenüber freundlich oder – wie damals ganz bestimmt – feindlich eingestellt. „Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.“ Dabei kann es aber auch nicht darum gehen, immer Ja und Amen zu sagen, klein beizugeben und die Feinde groß werden zu lassen. „Es geht [darum, nicht in die Eskalationsspirale einzusteigen, sondern diese zu unterbrechen… [Man würde sich ja sonst sein] Handeln von der Gegenseite diktieren lassen, statt mutig nach den eigenen Maßstäben zu leben.“ (Steffen Groß)

„Vergeltet niemandem Böses mit Bösem.“

Das eigene Handeln in Übereinstimmung mit den – in unserem Fall christlichen – Grundwerten und Maßstäben zu gestalten, eine der entsprechenden Situation und den beteiligten Menschen angemessene Entscheidung zu treffen, überraschend anderes zu wagen oder sich drauf einzulassen – das ist nicht immer einfach. „Wie du mir, so ich dir“, meint eine sogenannte Volksweisheit, und schon geht es weiter mit dem Heimzahlen, ja Übertrumpfen durch Steigerung. Wohin das führt, kann man beispielsweise im altorientalischen Recht sehen. Dort wurde jemand, der einem anderen bei einer Prügelei einen Zahn ausgeschlagen hatte, mit dem Verlust mehrerer Zähne bestraft. Und wenn jemand durch das Verschulden eines anderen ein Auge verlor, verlor der Verursacher dann als Strafe gleich beide. Diese Unverhältnismäßigkeit wurde im israelitischen Recht drastisch gemildert, wenn es hieß: „Nur noch ein Auge für ein Auge, ein Zahn für einen Zahn.“ Das war Deeskalation, da stand eine damals ungeahnte Mäßigung dahinter. Deshalb spricht Paulus auch davon, Gott die Rache zu überlassen. Gemeint ist damit, auf „eigene Rachewünsche und eigene Rachepraxis zu verzichten, ohne damit gleichzeitig auf eine Änderung der Verhältnisse verzichten zu wollen, es geht um die Herstellung und Wiederherstellung von Recht durch Gott.“ (Jürgen Ebach) Denn da, wo Menschen blindwütig zuschlagen würden, geht Gott anders vor. Überraschend anders, kreativ – also schöpferisch – anders. Prominentestes Beispiel dafür ist die Geschichte Jesu. Die Henker tot umfallen zu lassen, die gaffende Menge mit Blitz und Donner zu erschlagen, den Pilatus tot zu Boden sinken zu lassen – alles Möglichkeiten, die Gott gehabt hätte. Aber dann wäre nicht passiert, was passiert ist: Er selbst, Gott, wäre nicht in seinem Sohn in den Tod gegangen, um uns Menschen von dort – aus dem Ort der größten Gottferne – herauszuholen. Die bis dahin undenkbare, die völlig neue, kreative, schöpferische Variante, die Gott als Alternative zur Eskalation der Gewalt wählt, ist Auferstehung. Und die – das ist das Größte an dieser Deeskalationsgeschichte – die gilt nicht nur Jesus. Auf den Auferstehungsikonen der Ostkirche zieht Christus durch die sich öffnenden Flügel der Höllenpforten Adam und Eva mit sich! Oder, um es mit Paul Gerhardt auch auf uns zu beziehen: „Wo mein Haupt durch ist gangen, da nimmt er mich auch mit!“

„Wo mein Haupt durch ist gangen, da nimmt er mich auch mit!“ Auferstehung ist ein Geburtsgeschehen – zuerst der Kopf, dann der Leib. Erst Christus, dann die, die ihm nachfolgen. Geburt zu einem neuen Leben, nicht erst im Himmel, sondern schon hier, ansatzweise, wo das geschieht, was Paulus an die Menschen in Rom schreibt und auch an uns: „Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden… Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern sei kreativ und überwinde das Böse mit Gutem.“ Wir werden Überraschungen erleben – manchmal sogar mit Rosen!

 

Foto: Sabine Zorn

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