Leben gegen den Trend

Siehe, der Mensch!

Liebe Schwestern und Brüder!

Mit dem Sonntag Judika beginnt die Passionszeit. Jesu Leiden kommt immer deutlicher in den Blick. Mit Jesus gehen wir seinem Sterben entgegen. Das Evangelium, das wir gehört haben, ist schon sehr karfreitäglich. Jesus vor Pilatus. Jesu Geißelung und Verspottung. Der Abschnitt endet mit dem Satz des Pilatus: Seht, welch ein Mensch! Im griechischen Original steht hier nur: Siehe, der Mensch! – Dieses „Siehe, der Mensch!“ will ich als Überschrift über die Erzählung stellen. Sie bekommt dann eine neue Tiefenschärfe.

Schauen wir einmal hin: Wer sind die Menschen in dieser Geschichte. Da sind die Hohenpriester, die religiösen Autoritäten zur Zeit Jesu: Sie sind korrekt, nehmen es ganz genau, wollen keine Fehler machen. Sie bewahren die Ordnung. Sie wollen sich und die Menschen, für die sie Verantwortung tragen, schützen. Darum gehen sie noch nicht einmal hinein in das Prätorium, um sich nicht zu verunreinigen. Pilatus muss zu ihnen hinaus kommen. Sie halten sich an alle Gebote. Und dort, wo es ihnen nicht gelingt, da sind sie klug, und schieben die Verantwortung dem Pilatus zu. „Wir dürfen niemanden töten“, sagen sie. Die Drecksarbeit darf Pilatus machen.
Sind sie letztlich nicht ängstlich? Spüren sie vielleicht, dass dieser Jesus ihre Ordnung durcheinander bringen würde, in der sie sich gut eingerichtet haben? Haben sie Angst vor Veränderung? Geht es ihnen vielleicht auch um ihre Macht? Oder sind sie unter der Fassade ihrer vielen Gebote vielleicht einfach unsicher? Ängstlich, unsicher, unehrlich, skrupulös, verschanzt hinter komplizierten Regeln. – Siehe, der Mensch!

Da ist Pilatus. Er hat sich angepasst und kommt den religiösen Autoritäten entgegen. Mehrfach sogar geht er zu ihnen hinaus, weil sie nicht zu ihm herein kommen wollen. Er lässt sich ein auf diesen seltsamen Prozess. Er tut nur seine Pflicht. Wenn er sich mit den Religionsvertretern gutstellt, hat er mehr Ruhe in diesem unruhigen Land, dessen Religion er nicht versteht. Darum macht er besser das, was sie wollen.
Seltsame Reden schwingt dieser Angeklagte, spricht von einer anderen Welt und von Wahrheit. Wahrheit? Was interessiert Pilatus Wahrheit? Macht zählt und Geld. Dieser Jesus ist ihm eigentlich egal. Irgendein Angeklagter, den er töten lassen soll. Das ist kein schöner Job, aber einer muss ihn ja machen. Besonders unschön ist: ganz offensichtlich ist dieser Mann kein Verbrecher. Aber die anderen wollen ihn loswerden. Dann macht er halt, was man so tut. Ein bisschen Geißelung und Verspottung – Folter würde man heute dazu sagen. Den Verurteilten demütigen. Am Ende macht er nochmals deutlich, dass er die Verantwortung nicht übernehmen will für die Ermordung dieses Unschuldigen. Er führt nur die Befehle aus, die andere ihm geben.
Opportunistisch, machtverliebt, feige und gewissenlos. – Siehe, der Mensch!

Da ist Jesus. Verspottet, verwundet, gefoltert, gedemütigt und zugleich würdevoll durch und durch – ein König, der die Wahrheit bezeugt, das Wahre, den Wahren, den Einen und Einzigen. Sein Fundament ist nicht die von den unterschiedlichsten Empfindungen, Anmutungen, Bedürfnissen angetriebene Welt, sein Fundament, die Wurzel seines Handelns und seiner Verkündigung ist ein Reich, das nicht von dieser Welt ist. Sein Fundament ist der, der der Ursprung von allem ist. Würdevoll im Ursprung und verwundbar zugleich. – Siehe, der Mensch!
Und ich? Wer bin ich als Mensch? Weiß ich um meine Würde, meinen Ursprung? Habe ich meine Verwundbarkeit akzeptiert?

Im Anschluss an den Gottesdienst werden wir in der Elisabethkapelle eine Ausstellung mit besonderen Ikonen eröffnen. Geschaffen hat sie der Schweizer Goldschmied und Theologe, Ikonograf und Mystiker Josua Boesch. Josua Boesch hat existenziell gerungen mit der Frage: Wer bin ich? Wer bin ich für Gott? Wer bin ich für die Menschen?
Auf seinem spirituellen Weg hat Josua Boesch zahlreiche Metall-Ikonen geschaffen und zahlreiche Wort-Ikonen. Die ursprünglichste Ikone jedoch ist der Mensch.

Eine Ikone ist transparent. Es geht nicht so sehr um das Bild, das man aufs Erste sieht. Die Ikone ist vielmehr Abbild oder Inbild einer ganz anderen Wirklichkeit, sie ist schöpferisch-dynamische Gestalt und Gleichnis Gottes. Die Ikone Mensch ist Gottes Ebenbild.
Als sein Ebenbild hat Gott den Menschen geschaffen. Da liegt der Ursprung und das Ziel. Josua Boesch spricht vom Urbild. Er selbst ist den Weg gegangen, dieses Urbild freizulegen von den vielen Schichten, die sich im Laufe einer Biografie und durch viele Begegnungen über das Urbild gelegt haben. Dabei war er radikal. Er ist an die Wurzel gegangen. Er hat gerungen mit Gott und mit sich selbst.

Seine Ikonen sind aus Metall. Sie alle mussten durchs Feuer gehen, um ihre Gestalt zu bekommen. Sie sind geläutert.
Auch der Mensch muss durch einen Prozess der Läuterung, um zu der Gestalt zu gelangen, als die er von Gott von Anfang gemeint war, um erkennbar zu werden als Ikone Gottes.
Für Josua Boesch wurde dieser Weg zum Auferstehungsweg.
Zu einer Ikone, die in der Ausstellung zu sehen ist, der Lebensbaum-Ikone, schreibt er: „Ikone ist Urbild vom Menschen. Wie er von Anfang gemeint war. AUFERSTANDEN. Verwurzelt und aufrecht wie ein Baum. In der Vertikalen sich ausstreckend, in der Horizontalen sich ausspannend. Beziehungsfähig zu Gott und zu Menschen. DU will er sagen. Und DU sein. Die Erde umfangen und auch den Himmel, als DU. Einswerden mit beiden. Was für ein langer und mühsamer Weg, um über die Gegensätze hinaus bis zu dem zu gelangen, der alles verbindet und eint. Ein Kreuzweg. Oder vielleicht doch ein Auferstehungsweg?“ (Josua Boesch, arte contemplativa, S. 18)

Diesen Auferstehungsweg ist er, der Ikonograf und Mystiker, Theologe und Goldschmied, selbst gegangen. Mit seinen Ikonen – den Metall-Ikonen und den Wort-Ikonen, hat er ihn auch anderen zugänglich gemacht.
Ein Ikonenzyklus trägt den Titel Auferstehungsweg. Wer diese Ikonen meditiert, wird Schritt für Schritt den Weg geführt von der Frage nach dem eigenen Ursprung über die Berufung, durch die Wüste hinunter ins Leiden, über das mystische Einswerden, die Danksagung – Eucharistie – über die Verwandlung hinein in den achten Tag, die Auferstehung, die zwar schon am Anfang steht, die dann aber alles sprengt.

Im Kirchenjahr stehen wir heute am Sonntag Judika in der Tiefe, beim Leiden. Josua Boesch hat die Leidens-Ikone des Auferstehungsweges gestaltet als Ikone von einem Menschen mit einer Dornenkrone aus Gold. – Siehe, der Mensch!
Er schreibt dazu: „Es ist der Auferstandene, der hier leidet. Es sagte einmal einer: ‚Es ist, wie wenn hier alle Dornenkronen der Welt und alle Beleidigungen und alle Leiden der Menschheit gesammelt würden, um in Strahlen der Herrlichkeit Gottes verwandelt zu werden‘.
Es ist so: Die Verwundungen sind aus Gold, die Tränen sind aus Gold, selbst die Dornen. Alle sind verwandelt.
Ist vielleicht gerade dieses Verwandeln der Leiden das besondere Engagement des Auferstandenen heute?
Ist der Himmel deshalb allen Leidenden und Sterbenden besonders nahe?
Wahrhaftig, der zum Himmel gefahrene Christus ist den Leidenden besonders nahe, weil nur wer leidet die Welt verändern kann…
Was für ein neues Geheimnis: Der Auferstandene zeigt sich heute leidend und die Welt verändernd. Erwartet er von seinen Christen und von seinen Kirchen heute nicht eine authentische Anteilnahme an seinen Leiden und am Leiden der ganzen Welt? Eine glaubwürdige Mitarbeit an der Verwandlung der Welt?“ (Josua Boesch, Auferstehungsweg, S. 24f.)

Im Evangelium haben wir gehört, wie Menschen so sind. Sie sind, wir sind wie die Hohenpriester und wie Pilatus oft ängstlich, feige, machtverliebt, von Scham gebeugt, unehrlich, unsicher und noch vieles mehr. Dass wir so sind, und nicht nur wir, sondern die ganze Menschheit, macht, dass so viele Menschen leiden, obwohl keiner das wirklich will.
Der auferstandene Christus zeigt uns schon heute den Weg, wohin wir gehen sollen, damit die Welt sich wirklich ändern kann: zum Ursprung des Menschsein, zu dem, wie wir von Anfang an gemeint sind. Wir sind Ikonen des Ewigen.
Um das zu erkennen und aus dieser Erkenntnis zu leben, müssen wir erst diesen Ursprung schauen: Siehe, der Mensch, das Ebenbild Gottes. Amen.

Predigerin: Pfarrerin Dr. Sabine Bayreuther (BD)
Foto: Pixabay
Predigttext: Johnnes 18,28-19,5

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