Liebe Schwestern und Brüder, liebe Gemeinde
Können Sie sich an eine Situation erinnern, in der Sie von Herzen ergriffen waren? So sehr, dass Sie fast alles um sich herum vergessen haben? Ich saß mal über eine Stunde vor einem Marienbild in Schwäbisch Gmünd, weil es mich so sehr berührt hat. Es kann auch eine Musik sein, die zu Herzen geht. Oder ein neugeborenes Baby im Arm zu halten. Oder wenn man verliebt ist, hat man auch das Gefühl, davon ganz ergriffen zu sein. Oder wenn man von Gottes Güte ergriffen ist, so wie Paulus es erfahren hat. Paulus ist zu der Zeit, als er den Brief an die Philipper schrieb, vermutlich in römischer Gefangenschaft, in einer Wohnung, die er nicht verlassen durfte, wohl aber Besuch erhalten konnte. Er wartete auf sein Urteil, von dem er sich sicher war, dass er zum Tode verurteilt werden würde. Nun will er die wichtigsten Erkenntnisse seines Lebens mitteilen.
Philipper3, 7-14 Basisbibel
Aber alles, was mir damals als Vorteil erschien, sehe ich jetzt – von Christus her – als Nachteil. Ja wirklich: ich betrachte es ausnahmslos als Nachteil. Dahinter steht die überwältigende Erkenntnis, dass Jesus Christus mein Herr ist! Verglichen mit ihm ist alles andere wertlos geworden, ja, in meinen Augen ist es nichts als Dreck! Mein Gewinn ist Christus. Zu ihm will ich gehören.
Denn ich gelte nicht als gerecht, weil ich das Gesetz befolge, sondern weil ich an Christus glaube. Das ist die Gerechtigkeit, die von Gott kommt und deren Grundlage der Glaube ist.
Ich möchte Christus erkennen und die Kraft seiner Auferstehung erfahren. An seinem Leiden möchte ich teilhaben – bis dahin, dass ich ihm im Tod gleich werde. Das alles geschieht in der Hoffnung, auch zur Auferstehung von den Toten zu gelangen.
Ich möchte nicht behaupten, dass ich das alles schon erreicht habe oder bereits am Ziel bin. Aber ich laufe auf das Ziel zu, um es zu ergreifen. Denn ich bin ja auch von Christus Jesus ergriffen. Brüder und Schwestern, ich bilde mir wirklich nicht ein, dass ich es schon geschafft habe. Aber ich tue eines: Ich vergesse, was hinter mir liegt. Und ich strecke mich nach dem aus, was vor mir liegt. Ich laufe auf das Ziel zu, um den Siegespreis zu gewinnen: die Teilhabe an der himmlischen Welt, zu der Gott uns durch Christus Jesus berufen hat.
Paulus ist ein Eiferer. Wenn er was macht, dann macht er es richtig, und möglichst vollkommen. Alles, was er getan hat, hat er für Gott getan. Das ist ein Wesenszug von ihm. Das war vor und nach seiner persönlichen Wende so. Er beschreibt sein vorheriges untadeliges Leben. Mit ganzen Herzen hing er daran. Nun nennt er es im Brief als Nachteil, als Dreck. Darf Paulus das so sagen? Ist das nicht Antijudaismus? Was mache ich mit diesen Sätzen? Wir müssen sie nur richtig verstehen. Das Volk Israel ist das erwählte Volk Gottes und der Bund, samt dem Gesetz, ist gut und richtig.
Paulus aber spricht hier von sich selbst. Es treibt ihn damals die Frage um: wie finde ich Gott? Wie stimme ich Gott gnädig? Zu dem früheren Glauben ist für ihn etwas dazu gekommen, das ihn verändert hat: die Erkenntnis: zu Gott finde ich, weil Gott mich sucht. Ich bin vor Gott gerecht, nicht, weil ich das Gesetz erfülle – was mir trotz allem Tun, nicht gelingt- sondern aus dem Glauben an den barmherzigen, liebenden Gott, den Jesus gepredigt hat.
Lassen Sie mich eine kleine Geschichte von Charlie Brown, der bekannten amerikanischen Comicfigur, erzählen:
Charlie Brown übt sich im Garten im Bogenschießen. Jedes Mal, wenn der Pfeil im Bretterzaun stecken bleibt, läuft er hin und zeichnet eine Zielscheibe drum herum. Da kommt Lucie und kommentiert: „Mensch, Charlie, du musst doch zuerst die Zielscheibe zeichnen und dann schießen“. „Das weiß ich auch“, meint Charlie, „aber auf meine Art kann ich nie am Ziel vorbeischießen!“
Wir lächeln über diese kleine Geschichte von Charlie Brown.
Aber im Gegensatz zu unserer Geschichte, passiert im Evangelium Jesu etwas ganz Anderes. Jesus sagt: Gott malt die Zielscheibe um deinen Pfeil. So kannst du ihn immer treffen. Gott ist immer zur Stelle, um dir nahe zu sein.
Das Ziel, die Gnade, hast du schon erreicht, weil Gott großzügig, barmherzig, liebend ist. Gott sucht den Menschen. Gott ist wie der Händler, der eine kostbare Perle sucht und alles gibt, um sie zu erhalten. Sie und ich sind Gottes Perlen.
Und das ist es, was Paulus so tief im Herzen ergriffen hat. Gott hat ihn gefunden. Gott hat ihn ergriffen – sozusagen gerettet. Und nun ist er von Gott ganz ergriffen, ganz von Gott erfüllt. Das ist für Paulus die Wende in seinem Leben gewesen. Paulus hat den Schatz im Acker gefunden, er gibt alles, um diesen Schatz zu erhalten. Und diesen Schatz behält er im Herzen. Daran hält er fest, auch und gerade im Angesicht des Todes. Gott berührt uns, ergreift uns. Und wir? Können wir es erfassen und begreifen? Wir sind von Gott ergriffen, von ihm gesucht und gefunden. Das spüren wir manchmal. Bei manchen ist der Glaube fest, bei anderen eher ein „hin und her“. Aber es ist nicht so wichtig, was wir spüren. Wir sehnen uns nach Gott. Und an Gottes Versprechen können wir uns festhalten: er sucht uns, er lässt sich finden, er ist in jeder Situation uns nahe, er will das Leben für uns.
Paulus schreibt: er läuft dem hinterher. Er will immer Christus ähnlicher werden. Aber das ist kein Machen und Tun, sondern ein Werden und sich wandeln lassen. Es ist ein sich hineinziehen lassen in Christus – so beschreibt es Bonhoeffer. Gott wurde Mensch. So ist das Menschsein geheiligt worden und hat seine Würde von Gott. So wird uns jeder Mensch zur Schwester und zum Bruder. So werden wir Christus ähnlicher.
Und Christus hat als Mensch gelitten. Alles Leiden und alle Not können wir in Gottes Hand legen, so wie Jesus es getan hat. Christus hat die Not der Menschen gelindert. Barmherzigkeit und Nächstenliebe lässt uns zum anderen hinwenden. So werden wir Christus ähnlicher.
Christus ist auferstanden. Nach dem Leiden und dem Tod entsteht was Neues. Immer ist ein Neuanfang möglich. Wir werden mit Christus auferstehen. So werden wir Christus ähnlicher.
Paulus hat immer die Wiederkunft Jesu erwartet, in der das neue Himmelreich anbricht. Jetzt aber ist für Paulus in der Nähe seines eigenen Todes wichtig, dass seine Erkenntnis der Barmherzigkeit Gottes auch im Tod gilt. Gottes Barmherzigkeit, Gnade und seine Vergebung bedeuten, dass der Tod als letzte Trennung von Gott hinfällig ist und wir mit Christus auferstehen und ein neues Leben haben. Und es beginnt heute schon und geht in die Ewigkeit hinein. Gottes Liebe und seine Nähe sind der Schatz, den wir haben auf Erden und im Himmel, im Leben. im Tod und in der Auferstehung. Gott hält uns sachte in der Hand – denn in seinen Augen sind wir wertvoll, sind wir Perlen.
Amen.
Predigerin: Barbara Neudeck (BD) Diakonin
Bild: Barbara Neudeck