Leben gegen den Trend

Volkstrauertag

Liebe Schwestern und Brüder,

in unserem Oberstübchen im Kopf ist es ziemlich voll möbliert. Wir wohnen darin, aber wissen Sie eigentlich, was Sie dort alles an Möbel besitzen?
Manche Möbel sind sehr nützlich, andere sehr bequem: z.B. das alte Sofa, wo wie gerne sitzen und vor uns hinträumen. Oder der Schrank mit den Fotoalben, in denen wir nach Erinnerungen stöbern. Oder der Computer, auf dem wir Daten und wichtige Ereignisse gespeichert haben. 1914 und 1918. 1939 und 1945 – Anfang und Ende der beiden Weltkriege, in der so viele Menschen ihr Leben verloren haben, derer wir heute am Volkstrauertag gedenken.
Da steht auch ein Schrank mit vielen Schubladen. Ein paar von diesen Schubladen gehören immer mal wieder ausgemistet. Z.B. die Kiste mit der Aufschrift Vorurteile. Darin ist z.B. dieses Vorurteil: der Mensch sieht aus wie ein Ausländer, deshalb spreche ich zu ihm in grammatikalisch unvollständigen Sätze: „Du gehen da hin!“ Oder: alle männlichen Fahrradfahrer sind Verkehrschaoten und die Blondinen sind dumm. Oder: so und so benimmt man sich richtig. Sicher entdecken Sie einige weitere Schubladen, die man entsorgen könnte.
Und diesen harten Stuhl, den wir alle da rumstehen haben, auf dem wir alle ab und zu gerne sitzen: den Richterstuhl. Gemeinsam am Tisch der engen Moral verkünden wir ein Urteil nach dem andern. Oft über andere, manchmal auch über uns selbst. Wenn wir aber genau hinschauen, ist dieser Stuhl viel zu groß für uns.
Paulus meint ja, dass wir diesen Richterstuhl gar nicht brauchen. Wir können unseren Richterstuhl getrost klein hacken und entsorgen, denn für dieses Amt ist Gott besser geeignet.

Doch hören wir, was Paulus schreibt:
Er schreibt in Röm 14, 7-13 (BB):
Keiner von uns lebt nur für sich selbst und keiner stirbt nur für sich selbst. Denn wenn wir leben, leben wir für den Herrn.
Und wenn wir sterben, sterben wir für den Herrn. Ob wir nun leben oder ob wir sterben – immer gehören wir dem Herrn!
Denn dafür ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden:
dass er Herr sei über die Toten und die Lebenden.
Du Mensch, was bringt dich nur dazu, deinen Bruder oder deine Schwester zu verurteilen?
Und du Mensch, was bringt dich dazu, deinen Bruder oder deine Schwester zu verachten?
Wir werden doch alle vor dem Richterstuhl Gottes stehen!
Denn in der Heiligen Schrift steht: »›Bei meinem Leben‹, spricht der Herr: ›Vor mir wird jedes Knie sich beugen, und jede Zunge wird sich zu Gott bekennen.‹«
So wird jeder von uns vor Gott Rechenschaft über sich selbst geben müssen. Lasst uns aufhören, uns gegenseitig zu verurteilen!
Achtet vielmehr darauf, den Bruder oder die Schwester nicht zu Fall zu bringen. Werdet auch nicht zum Stolperstein für sie.
Im Glaubensbekenntnis sagen wir: Christus sitzt zur Rechten Gottes und wird richten die Lebenden und die Toten. Dazu ist Christus gestorben, dass er Herr sei über die Toten und die Lebenden.
Der Richterstuhl Gottes. Es ist kein einfaches Bild für mich. Es gibt zu viele Darstellungen vom Weltgericht Gottes und Bilder vom Weg in die Hölle und vom Weg in den Himmel. Zuviel Angst wurde damit gemacht.
Ja, es wird einen Richterstuhl Gottes geben und er wird richten. Gott sieht unsere Wege und Taten. Und wir sind für unsere Taten verantwortlich.

Aber Gott ist Gott. Wir Menschen können seine Wege und Gedanken nicht ermessen. Und Gott denkt göttlich und nicht menschlich.
Und Christus sitzt zu seiner Rechten. Er kennt seinen Vater und hat uns von ihm erzählt. Gott ist ein menschenfreundlicher Gott, uns zugewandt. Der sich riesig über jeden freut, der zu ihm kommt. Der keine Standesunterschiede macht, der großzügig ist, der reich beschenkt und gnädig und barmherzig ist. Ein Gott, der die Wege des Menschen mitgeht. Gott, der uns in der Taufe zugesprochen hat: „Ich werde dich segnen und bei dir sein.“

Sollte Gott unser Herz nicht kennen und sehen, wie wir es meinen? Er, der unsere Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kennt. Der seinen Sohn hingibt, um uns den Weg zu ihm und dem ewigen Leben zu ebnen. Das ist ein anderes Bild des Richterstuhls.
Er richtet und er richtet auf. Er schenkt uns die Würde des Menschseins und das Geschenk der Gotteskindschaft.
Ich glaube und vertraue darauf, dass die Liebe Gottes stärker ist als der Tod, dass die Liebe stärker ist als alles Unrecht, das ich Anderen getan habe. Ich glaube und vertraue darauf, dass Gottes Licht das Dunkle wandeln kann.

Ich bin Mensch und werde immer wieder Fehler machen, aber ich kann Gott bitten, mir beim Aufräumen in meinem Oberstübchen zu helfen. Und vielleicht schenkt mir Christus brauchbare neue Möbelstücke, die gut sind, z.B. einen großen Tisch, um den viele Menschen zum großen Abendmahl versammelt sind.
Aber halt: diesen Tisch gibt es schon! Auf Erden und im Himmel, in der Gegenwart und in der Ewigkeit. Dieser Tisch steht im Haus Gottes und ich bin Gast, so wie viele andere Menschen auch. Und Gott lädt uns ein an seinen Tisch.

Wir sind eine Gemeinschaft in Christus. Kein Mensch lebt nur für sich – wir sind immer auf einander angewiesen und einander zugewiesen.
Ubuntu: das Wort kommt aus dem südlichen Afrika und bedeutet in etwa „Menschlichkeit“, „Nächstenliebe“ und „Gemeinsinn“, sowie die Erfahrung, dass man selbst Teil eines Ganzen ist. Ein Mensch ist ein Mensch durch andere Menschen.
Es ist eine Haltung des wechselseitigen Respekts und der Achtung der Menschenwürde des Einzelnen und des Bestrebens eines friedlichen Miteinanders in einer Gesellschaft.  So hat es Nelson Mandela, südafrikanischer Aktivist, Friedensnobelpreisträger und erster schwarzer Präsident in Südafrika, erklärt.
Was Paulus uns im heutigen Predigttext sagt, gleicht dem Ubuntu, aber es geht noch über das hinaus.

Wir haben nicht nur eine Gemeinschaft untereinander, sondern auch mit Gott. Oder besser gesagt: Gott stiftet seine Gemeinschaft mit den Menschen. Er gibt der Gemeinschaft einen Sinn. Er gibt unserem Leben einen Sinn.  Denn wenn wir leben, leben wir für den Herrn.
Und wenn wir sterben, sterben wir für den Herrn. So wie Christus es uns vorgelebt hat, so wünscht er sich das Leben für uns: Gott von ganzen Herzen lieben, seinen Nächsten wie sich selbst.
So will ich – und Sie vielleicht auch – immer wieder mein Oberstübchen mit Gott aufräumen und von unnötigem Kram befreien und zulassen, dass seine Liebe dort als Licht gegen die Dunkelheiten aufleuchtet.
Amen

Predigerin: Barbara Neudeck (BD) Diakonin
Bild: Pixabay

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