Predigt am 1.1.23 Neujahr, Lk.4,16-21
Unsere Sehnsucht und die Wirklichkeit Gottes
Liebe Gemeinde,
wie haben Sie den gestrigen Tag verbracht?
Sie, liebe Diakonissen, haben nach dem Abendmahlsgottesdienst und dem festlichen Abendessen die liturgische Nacht gefeiert. Es gab Texte zum Nachdenken über das vergangene Jahr auf weltlicher und persönlicher Ebene, ebenso wie Wünsche und Hoffnungen für das neue Jahr. Sie in Krankenzimmern oder Pflegebereichen werden vielleicht auch darüber nachgedacht haben, was alles war und was wohl kommt. Sorgen und Ängste – Hoffnungen und Wünsche.
Sorgen und Ängste, Wünsche und Hoffnungen gab es immer zu allen Zeiten, auch, als Jesus anfing zu wirken. Aber hören Sie seine Antwort darauf. Ich lese aus LK 4:
16Jesus kam auch nach Nazareth, wo er aufgewachsen war.Am Sabbat ging er wie gewohnt in die Synagoge. Er stand auf, um aus der Heiligen Schrift vorzulesen.
17Man reichte ihm die Schriftrolle mit dem Propheten Jesaja.
Jesus rollte sie auf und fand die Stelle, wo geschrieben steht:
18»Der Geist des Herrn ruht auf mir, denn der Herr hat mich gesalbt.
Er hat mich gesandt, den Armen gute Nachricht zu verkünden.
Den Gefangenen soll ich zurufen, dass sie frei sind, und den Blinden, dass sie sehen werden
Den Unterdrückten soll ich die Freiheit bringen.
19Ich soll verkünden: Jetzt beginnt das Jahr, in dem der Herr Gnade schenkt.«
20Jesus rollte die Schriftrolle wieder zusammen, gab sie dem Synagogendiener zurück und setzte sich.
Alle Augen in der Synagoge waren gespannt auf ihn gerichtet.
21Da sagte er zu den Anwesenden: »Heute ist diese Stelle in der Heiligen Schrift in eurer Gegenwart in Erfüllung gegangen.«
„Heute!“ Heute ist erfüllt, was der Prophet vorausgesagt hat.
Das ist echt ein starkes Stück. Wir denken „Was redest du da? Wo ist es denn, das Reich Gottes? Schau dich doch um: Nichts ist gut. Gar nichts! Und es wird auch nicht besser, nur weil du es behauptest!“
Wir glauben nicht daran, dass heute alles besser ist, nur weil gestern das alte Jahr mit allem Schrecklichen zu Ende gegangen ist.
Das alte Jahr ist vergangen. Der neue Morgen im neuen Jahr fühlt sich wie alle Tage an. Es geht genauso weiter. Wir sehnen uns danach, dass der Krieg aufhöre, dass die Gewaltigen vom Thron gestürzt werden und die Niedrigen erhoben werden, dass die Hungrigen mit Gütern erfüllt werden, so wie es Maria sang.
So viele Menschen sehnen sich nach liebevollen Berührungen, nach einem Augenblick, der ihre Hoffnung nährt.
»Heute ist diese Stelle in der Heiligen Schrift in eurer Gegenwart in Erfüllung gegangen.«
Vor ein paar Tagen haben wir an Weihnachten das Kind in der Krippe gefeiert. Klein fängt Gott an. Im Kleinen ist alles enthalten. Im kleinen Jesuskind ist die ganze Gottheit leibhaftig.
Im kleinen Samenkorn ist alles enthalten, damit es zum großen Baum wird.
Auf einem Plakat für eine Kunstfilmausstellung von Trinh T. Minh-ha. habe ich gelesen: „the ocean in a drop“ – der Ozean in einem Tropfen. Der Satz hat mich berührt und zum Nachdenken angeregt.
Was macht Jesus?
Er legt uns mit seinen Worten dieses Samenkorn ins Herz. Er lässt diesen Tropfen in unsere Seele fallen. Das fühlt sich gut an, sich vorzustellen, wie ich, nach vielen Jahren, unter dem Schatten des Baumes sitzen kann, den ich einst gepflanzt habe. Es fühlt sich gut an, in diesem Tropfen die Fülle zu erahnen, die Wüsten zum Leben erwecken kann.
Jesus weckt in mir Visionen. Er weckt meine Sehnsucht. Er weckt mein Suchen.
Visionen und Sehnsucht sind schon immer die Kraft, die Menschen in Bewegung gesetzt hat.
Ist nicht die Christusbewegung eine Bewegung, die bis heute anhält?
So gab es auch manche Menschen, die durch einen Gedanken Großes bewegt haben: Mahatma Gandhi, Martin Luther, Albert Schweizer, Martin Luther King, Mutter Theresia. Und auch Sie, liebe Diakonissen, haben mit Ihrer Kraft und Glauben das Diakonissen-Krankenhaus gebaut und haben Ihren Dienst an vielen Orten getan und Menschen geholfen.
Antoine St. Exupery sagt: Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.
Übertragen auf die alten Worte des Propheten Jesaja bedeutet das: Die Sehnsucht nach einem guten Leben in Freiheit hilft den Unterdrückten aus der Unterdrückung heraus.
Frauen in Afghanistan und Iran sehnen sich nach Gleichberechtigung und Bildung und protestieren – und wagen dabei ihr Leben.
DDR–Bürger sehnten sich nach einem freien demokratischen Leben und beteten und demonstrierten dafür.
Was ist Ihre Sehnsucht? Was bewegt Sie?
Frieden in der Welt – und Sie engagieren sich persönlich um Flüchtlinge oder spenden dafür?
Vielleicht eine Freundin wiederzusehen, mit der Sie lange keinen Kontakt hatten?
Einen Streit zu beenden und den ersten Schritt zu machen?
Vielleicht inneren Frieden zu finden trotz Gebrechlichkeit und Krankheit?
Vielleicht pflanzen Sie in diesem Jahr einen Baum zur Erhaltung der Schöpfung?
Vielleicht sehnen Sie sich nach Gott/ und öffnen ihre Seele für diesen Tropfen, der einen Ozean enthält?
Aber es ist nicht nur eine Idee oder eine Utopie, die in unser Herz gelegt wird. Nein – es ist das Wirken Gottes, das damals und heute Wirklichkeit ist: Also hat Gott seinen Sohn in die Welt gesandt, dass durch ihn die Welt gerettet wird.
Heute beginnt das Gnadenjahr Gottes. Heute wird alle Schuld vergeben. Heute ist Gott barmherzig.
Es ist kein Tropfen auf dem heißen Stein, sondern ein Tropfen, der aus Wüsten Gärten macht. Gott hat schon damit angefangen. Gottes Wirken geschieht schon, bevor die Erde erschaffen war. Gottes Wirken war immer mit seinem Volk Israel. Gottes Wirken ist auch heute wahrhaftig.
Und in unseren Herzen und mit unseren Händen geht es weiter.
»Heute ist diese Stelle in der Heiligen Schrift in eurer Gegenwart in Erfüllung gegangen.« „Jetzt beginnt das Jahr, in dem Gott Gnade schenkt.“
Die Gnade Gottes geht heute und jetzt in Erfüllung. Lassen wir uns von diesem Tropfen vollkommen davon erfüllen. Das ist der Ozean des Friedens und der Ozean der Liebe Gottes in uns, der uns bewegt.
Und Gott ist ein Gott, der uns sieht- der uns liebevoll ansieht- und begleitet, was immer auch in diesem Jahr geschehen mag. Gott sei Dank. Amen.
Predigerin: Barbara Neudeck, Diakonin, BD
Foto: aus unplasch